Schon in 24 Stunden konnte ein gewöhnlicher Czernowitzer oder Lemberger Einwohner mit diesem Zug nach Wien gelangen, das so weit entfernt wie der Mond schien. Daher wurde das Jahr 1866 für die Einwohner Galiziens und der Bukowina etwas wie die Schritte Neil Amstrongs 1969 für die Einwohner der Erde. Czernowitz, Stanislau, Lemberg, Przemyśl, Krakau und Wien wurden durch eine Eisenbahnverbindung und somit in einem ästhetischen Raum zusammengeschlossen und blieben darin bis zu den großen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts. Der gemeinsame kulturelle Raum brach zusammen und hinterließ bloß vereinzelte Erinnerungen und unter dem Bett versteckte Porträts des Kaisers Franz Joseph. Wir laden Sie auf eine Reise durch die sechs Städte ein, um zu erfahren, was sich auf dieser Eisenbahnlinie änderte, und ob zwischen den Städten immer noch jene mythologisierte Verbindung besteht. Durch die Relikte des ehemaligen Habsburgerreiches in der Bukowina, Galizien und Lodomerien begeben wir uns auf die Suche nach einem österreichischen Atlantis. |
Das deutsche Kulturzentrum befindet sich direkt in der Stadtmitte. Die Haustür steht immer aufgeschlossen, was im postsowjetischen Raum eher untypisch ist. Die rot gestrichene Tür (in der Sowjetzeit wurden Fußböden, Türen und manchmal auch Decken mit dunkelroter Farbe gestrichen; oft wurden mit der Farbe sogar hochwertige alte Parkettböden bedeckt) und Holzbalken vor dem Eingang verraten gleich die Geschichte des Gebäudes. Im Flur haben sich bereits junge Leute versammelt. Sie warten auf den Beginn des deutschen Clubs, der von Daniel aus dem ostdeutschen Jena geleitet wird. |
Der Schriftsteller Taras Prochasko sagt, dass in Iwano-Frankiwsk das galizische Gewohnheitsrecht, das sich gerade zu Zeiten der Monarchie herausbildete, sehr spürbar ist. „Soziale Vereinbarung spielt hier eine große Rolle. Diese Art Regel ist in Iwano-Frankiwsk viel stärker, als im Osten oder Zentrum der Ukraine", erklärt Taras Prochasko. Die österreichisch-ungarischen Behörden stützten sich zur Zeit des Eisenbahnausbaus nach Czernowitz auf grundlegende demokratische Prinzipien. Die Beamten waren sich sehr gut bewusst, dass die Monarchie ein Vielvölkerstaat war, und verstanden auch die Notwendigkeit, bei der Beilegung von Konflikten sanft vorzugehen. So unterstützten die Behörden Gründungen von Vereinen, Gemeinschaften usw. und dadurch konnte eine Zivilgesellschaft entstehen. Im 19. Jahrhundert brachte die k. u. k. Monarchie die Kultur der gesellschaftlichen Initiativen nach Galizien mit. Aber nach der Meinung von Jurij Andruchowytsch entwickelte sich diese Praxis in vollem Ausmaß erst zur Zeit der Zweiten Polnischen Republik: „Die damalige polnische Regierung betrieb eine sehr aggressive Assimilationspolitik den Ukrainern gegenüber. Der Widerstand dagegen wurde nicht nur durch den Terror (Organisation der Ukrainischen Nationalisten, Ukrainische Aufständische Armee), sondern auch auf legalem Wege – durch den Ausbau einer Zivilgesellschaft – geleistet." Wie dem auch sei, ist das heutige Galizien Vorreiter der ukrainischen Umgestaltungen. |
Wir sind in die galizische Landeshauptstadt Lemberg unterwegs. In den Jahren 1855 und 1856 beschlossen hier Vertreter des galizischen Adels die Verhandlungen über den Eisenbahnbau von Przemyśl über Lemberg und weiter nach Czernowitz mit der österreichischen Zentralregierung aufzunehmen. Die österreichische Regierung meinte aber, dass es doch sicherer wäre, wenn die Eisenbahn in staatlichem Besitz und nicht in privaten Händen wäre, geschweige denn in privaten polnischen Händen, zu denen die Österreicher, gelinde gesagt, kein großes Vertrauen hatten. Das führte zu einer Konfrontation zwischen den staatlichen Behörden und dem galizischen Adel. Aber die eingetretene Finanzkrise zwang die Zentralregierung, auf eine partielle Beteiligung des Adels einzugehen. Gleichzeitig gewann sie für den Eisenbahnbau auch viele deutsche Investoren. Somit behielt der österreichische Staat seinen Einfluss auf die Eisenbahn Wien – Czernowitz. Aber wegen finanzieller Schwierigkeiten konnten die Gleise nur bis Lemberg verlegt werden, weswegen Vertreter der Czernowitzer Gemeinde beschlossen, sich mit der Bitte um Verlängerung der Gleise bis in die Bukowina an den Kaiser persönlich zu wenden. |
Weiße Tischdecken, Zeitungen, es riecht nach Kaffee, und es gibt sogar Sachertorte. Wir sind im Wiener Kaffeehaus in Lemberg, das es schon zur Zeit der Monarchie gab und, wie die Historiker behaupten, sehr populär war. Wir erhoffen uns, in die k. u. k. Atmosphäre einzutauchen, aber die Atmosphäre kommt mit den neuen Gästen – Büroangestellten mittleren Alters und türkischen Touristen. „Krautrouladen für mich bitte!", hören wir im Saal. |
Über dem San schweben in der Luft die Schneeflocken und offenbar auch der Geist von Stepan Bandera. Denn wie kann man sonst erklären, dass das ganze Schaufenster einer Buchhandlung nahe dem Fluss mit Büchern wie „Wolhynien in Flammen" (es handelt sich um die Tragödie von Wolhynien im Jahre 1943, als polnische und ukrainische Bevölkerungsgruppen gegenseitige ethnische Säuberungen erlitten), „Die Mörder der Ukrainischen Aufständischen Armee", „Das polnische Lemberg" (ein Teil der polnischen Nationalisten behauptet mit allem Ernst, dass Lemberg eine polnische Stadt sei und die Ukrainer sie den Polen zurückgeben sollten) u. v. a. gefüllt ist. |
Die Veranstalterin der Ausstellung „Mythos Galizien" Żanna Komar erzählt, dass ein Teil der Polen die nichtpolnische Geschichte Lembergs ignoriert. Ältere Leute sind überzeugt, dass das Leben dort 1939 stehen blieb, und wollen nicht glauben, dass die Stadt immer noch lebt und sich aktiv entwickelt. Frau Komar meint, dass sich der Mythos Galizien in Polen und der in der Ukraine wesentlich voneinander unterscheiden: „In der Ukraine ist der Mythos Galizien in der jetzigen historischen Etappe notwendiger und wichtiger". |
Interessant ist, dass die Ukrainer nicht nur am Wochenende nach Österreich kamen, sondern sie waren auch am politischen Leben des Staates aktiv beteiligt. Wir treffen den Enkel von Wolodymyr Zalozieckyj Sas, des Bukowiner Abgeordneten im k. u. k. Parlament. Der Nachkomme von Zaloziecki spricht nicht mehr Ukrainisch und war nur zweimal in Czernowitz, der Heimatstadt seines Großvaters. Er heißt mit dem Vor- und Familiennamen wie sein bekannter Vorfahr und hörte viele romantisierte Geschichten über jene Zeiten. (Links auf dem Foto – Wolodymyr Zalozietskyj Sas, Mitglied des österreichischen Parlaments) |